Stilfser Joch / Stelvio Marathon

Der Sommer ist endlich da und ich freue mich auf meinen ersten Marathon in diesem Jahr.  Gelaufen wird der Passo Stelvio, wie er auf Italienisch heißt, üblicherweise im Auto oder allenfalls mit dem Motorrad, was schon Herausforderung genug ist. Immerhin: Ich habe den zweithöchsten asphaltierten Gebirgspass der Alpen schon zweimal mit dem Rennrad bewältigt.

Seit zwei Jahren gibt es nun auch die ultimative Herausforderung für diese Strecke, die sich in 48 Kehren um1.869 Meter auf eine Höhe von 2.759 Metern emporschraubt. Ich meldete mich Ende Dezember an, weil die Startgebühr noch günstig war. Weil ich alles etwas schleifen ließ, merkte ich erst einen Monat vorher, das es sich bei der Geschichte um einen Trailrun handelte, leicht panisch schaute ich mir das  Streckenprofil an, was zum Teufel ist ein Alpensteig???

Eine Woche vor dem Start wurde dann die Strecke vom Veranstalter etwas entschärft und der Steig wurde raus genommen, wegen Steinschlag und Lawinengefahr. Da waren es nur noch Wanderwege, schlimm genug…

Startort und Basis ist das Örtchen Prad am Silfserjoch, gelegen im Südtiroler Vinschgau. Das Tal zieht sich von Meran im Südosten stetig bergan zum Reschenpass im Nordwesten. Für mich eines der schönsten Täler, das ich kenne. Ich nehme am Freitag die klassische Straßenanfahrtsroute über den Reschenpass aus dem österreichischen Inntal. Wegen einer Baustelle gibt es eine Umleitung und so führt der Weg über Schweizer Gebiet zum Reschenpass. Kurz vor dem Überqueren der Grenze in Martinsbruck geht es durch die Anlagen des „Don Rodolfo“- Sägebetriebs. Auf einer Reklamewand sieht man vier Damen in knappen und tief ausgeschnittenen Dirndln, darunter der Text: „Wir haben Holz vor der Hütte, greifen Sie zu!“ Wie sich herausstellt, hat diese nicht mehr ganz zeitgemäße Werbung die „Süddeutsche Zeitung“ bereits zu einer kritischen Nachfrage veranlasst. Was nichts daran ändert, dass der Betriebsinhaber, Herr Rodolfo Rüdisühli, das Plakat für „sehr gelungen“ hält.

In Prad geht´s zum Sportzentrum. Dort im Vereinsheim bekomme ich schnell die Startnummer und einen großen Sack mit allerlei Goodies. Etwas später fahre ich nach Schluderns in meine gebuchte Pension, duschen und etwas essen. Ich genehmige mir eine Pizza und einen großen Salat und gehe früh schlafen. So eine lange Reise strengt an. Für den Inhaber der Pension war es selbstverständlich, das Frühstück für die Starter schon um halb sechs zu bereiten. Ich freute mich über ein zeitiges und reichhaltiges Frühstück.

Die Taschenabgabe befindet sich am Fluss Sulden, zwischen Sportzentrum und dem Startbereich bei der großen Kirche Maria-Königin. Dort ist schon viel los. Ich hoffe, dass ich alles richtig gepackt habe, denn im Tal wurden 28° erwartet und im Ziel am Pass oben nur acht Grad.

Pünktlich um 8:10 Uhr startete die Königsdisziplin unter den Flaggen der vielen teilnehmenden Nationen. Alphörner ertönen, Treicheln werden geschwungen. Für die Marathonis folgt eine Runde im Tal. Über nette, leicht hügelige Wege geht es von Dorf zu Dorf. Überall sind viele Zuschauer und tolle Stimmung. An der Burgruine Lichtenberg vorbei. Der Blick auf das Tal in der tiefstehenden Morgensonne ist sehr schön, oft sieht man Beregnungsanlagen, die hier wegen der trockenen und sonnigen Witterung zum Landschaftsbild gehören. Nach 5 Kilometern drehen wir quasi um, heute um das Gebäude des Depuratore, zu Deutsch Klärwerk. Auf flachem Radweg geht es entlang der wild fließenden Etsch.

Rechter Hand würde man schon die große Alpenkette sehen, aber die gletscherbedeckten Gipfel fallen vor dem bedeckten grauen Himmel kaum auf. Unter der Straßenbrücke hindurch geht es nun in den Prader Sand oder genauer zu den Fischteichen nebenan. Hier mäandert die wilde Sulden in eine Auenlandschaft, bevor sie in die Etsch fließt.  Ich laufe nicht zu schnell, 5er Pace, oder so, der Berg wird noch genug schmerzen.

Lautes Knallen hört man aus der Richtung einiger junger Standbetreuer, die sich in der Tradition des auch in Bayern beliebten „Goaßlschnalzens“, des Knallens mit der Fuhrmannspeitsche, üben. Allerlei Kinderhände sind abzuklatschen. Nach einer großen Metzgerei, in der es natürlich den bekannten Sütiroler Speck zu kaufen gibt, schwenke ich auf den Kreuzweg ein. Schon der dritte VP-Punkt nach 13 Kilometern. Weniger als 30 „to go“.

Langsam geht es bergauf, immer mit Blick auf das allmählich unter mir immer kleiner werdende Prad. Am nächsten VP wirbt ein Transporter gekonnt für Schwimmbäder. Abkühlung wäre jetzt nicht schlecht. Es ist warm und schwül. Das Angebot an den VPs ist perfekt für Genussläufer: Außer einem großen Standardprogramm an Getränken und Obst gibt es auch Apfelkuchen und Törtchen. Perfekt zum Schlemmen und staubt nicht. Die sehr nach „bio“ aussehenden Körnerriegel hingegen sind eher etwas für starke Kaumuskeln. Dazu gibt es auch noch Iso-Gel in flüssiger Form, welches leicht aus dem Tütchen herauszusaugen ist. Ich stecke mir gleich noch zwei in mein Trikot.

Die Pinien und Kiefern muten so richtig mediterran an. Ich bin auf dem Archaikweg, einem  Wandersteig, gesäumt von knorrigen Gewächsen, der Supergau, gar nicht mein Gelände. Oft bieten sich schöne Blicke nach unten ins Tal. Es geht weiter bergauf, an einigen Stellen leicht ausgesetzt. Flache, sandige Passagen laden zu Zwischenspurts ein. Dann muss ich wieder etwas steiler hinunter.

Bevor Stilfs in Sichtweite kommt, kann ich das Dorf mit den steilsten Gassen bereits hören. Dort steppt der Bär. Am VP warten schon mal Gläser mit Prosecco auf uns, samt der lokalen weiblichen Jugend. Wenige Meter weiter am Kirchplatz dann der nächste Hotspot. So wie ich das sehe, können Zuschauer hier lokale Köstlichkeiten probieren. Die haben ihren Spaß mit uns. Um ein kleines Seitental herum lohnen sich die Ausblicke zurück auf das am Hang klebende Dorf.

Ein steiler Anstieg bringt uns zurück auf den Boden der Tatsachen. An einem Kirchlein vorbei, erwartet uns beim Queren einer Teerstraße die 21,2-km -Messstelle. Ich rechne im Kopf mal wieder die Zeitlimits. Die gibt es wohl, aber hinter mir sind noch so viele Sportler, dass ich keine Probleme haben dürfte. 8,5 Stunden stehen zur Verfügung und erst gut 2 davon sind vorbei. Nach 15 schweißtreibenden Minuten komme ich zum Wildgehege Fragges. Wenigstens der Zaun ist gut zu sehen. Drei Kilometer geht es nun über eine Forststraße sanft bergauf. Die Sportler vor mir haben wohl oft mal die Spitzkehren abgekürzt, das Gras ist platt getreten. Wer ein wenig Erfahrung am Berg hat, wird hier sicher noch gut laufen können. Eine VP mit Apfelstrudel und einem fantastischen Blick auf das Ortler-Massiv samt riesigen Gletschern. Der Ortler-Hauptgipfel ist 3905 Meter hoch. Vor mir liegen noch 16 km.

Für mich geht es nun hinunter über den Weg entlang der Seilbahntrasse. Und das überhaupt nicht so, wie sich Stadtkinder das wünschen. Über Stock und Stein gilt es keine Zeit zu verlieren. 1,5 Kilometer und eine halbe Stunde später finde ich mich nach einem Brückchen auf einer Skipiste samt Fahrweg wieder, auf dem ich jetzt endlich flott bergab laufen kann.

Die Straße über das Stilfserjoch wurde 1820 bis 1825 gebaut. Sie sollte die zu Österreich gehörende Lombardei besser erreichbar machen. Damals war Südtirol auch noch österreichisch. Die Schweizer standen diesen Plänen reserviert gegenüber, da der Verkehr bis dahin über die eidgenössischen Pässe führte. Zur Entstehungszeit waren auch Lawinenschutztunnel vorhanden, sodass der Pass ganzjährig geöffnet war.

Überholen ist auch leicht gesagt. Hier hat Powerwalking Konjunktur. Die durchschnittliche Steigung von 10% macht das Laufen schwierig.  Am Gasthof „Zum Weissen Knott“ der nächste VP. Mich verwirrt, dass die vertrauten orangefarbenen Kilometer-to-go-Schilder nun fehlen. Erst später sehe ich die blauen Markierungen am Boden, welche die Funktion des Herunterzählens nun übernommen haben. Die Häufigkeit der Spitzkehren nimmt etwas ab. Wir verlassen den Wald und haben ersten Blickkontakt mit der Ortlergruppe und dunklen Wolken. Vereinzelt sind Radler unterwegs. Bergauf merkt man ihnen die Anstrengung an. Bergab haben sie manchmal ein Problem mit mir, da ich mich an die Ideallinie halte, die wohl auch für Radler das Optimum darstellt.

Kehre 32, es wird wieder häufiger die Richtung gewechselt  Noch neun Kilometer. Kehre 28, 2062 Höhenmeter. „Nur“ noch 700 Höhenmeter sind zu bewältigen. Die Route ist auf der Denzel-Alpenstraßen-Skala mit SG3 eingestuft. Schwierig zu fahren, aber noch machbar. Ab SG4 wird es dann schon kriminell.

Bei Kehre 25 wären wir nach Plan auf die Straße gekommen. Kurz danach der Blick auf das Berghotel Franzenshöhe und das Ziel. Wie im Bilderbuch kann man das Mäandern der Straße nach oben erkennen. Nach drei Kehren bin ich dort: Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde hier eine Kaserne für das österreichisch-ungarische Militär erbaut. Um 1830 entstand ein Gasthof für Reisende. Durch den Besuch des Kaisers Franz Josef I am 28. Juni 1832 erhielt das Haus seinen Namen.

VP ASV Stilfs. Auch Bier und Zigaretten gibt es hier. Ich werde mit Verwunderung beäugt, was daran liegen könnte, dass ich inzwischen schnaufe wie eine alte Dampflokomotive. Ich schnappte mir ein Bier, schlug den Kronkorken professionell am Tisch ab, und kippte es in meinen Schlund, zu spät sah ich, dass es gar nicht alkoholfrei war. Ab etwa 2.500 Höhenmetern spüre ich, dass die Luft dünner wird. Jetzt muss ich rausholen, was noch geht, bevor mir der Atem wegbleibt. Inzwischen habe ich einen guten Blick dafür, wann die Steigung der Straße etwas flacher wird. Dann laufe ich mit Trippelschritten. Nach lockeren 50 bis 100 Metern ist wieder Gehen angesagt.
Noch vier Kilometer. Nun bin ich quasi vor der Wand, die es in vielen Kehren zu überwinden gilt. Die Schilder, mit denen die „tornanti“  durchnummeriert sind, werden wohl im Winter entfernt. Sonst würden die Schneemassen sie ins Tal mitreißen. Die Sonne kommt wieder zum Vorschein. Und schon wieder ein VP-Punkt, fantastisch. Und es wird noch einer folgen. Neben der Straße türmt sich immer wieder meterhoher Schnee.

„Noch 500 Meter“ steht am Boden. Ein Fotograf ruft mir zu, dass nur noch eine Kehre folgt. Ich rufe zurück „Scheiß Berg“ und grinse gequält in die Linse. Das Hotel „Stilfserjoch“ markiert dann die Passhöhe. „Scuola estiva sci passo Stelvio – Sommerschischule“ lese ich da. Auf dem Stilfserjoch befindet sich eines der letzten Sommerskigebiete der Alpen. Jetzt links halten, dann am Hotel vorbei. Wo ist nun das Ziel? Hundert Meter zum nächsten Parkplatz sind es noch. Vorne hängen die verbliebenen, noch nicht abgeholten Kleiderbeutel. Ein grandioser Zieleinlauf. Ich bin fassungslos über das, was mir da gelungen ist.

Dann muss ich mich umziehen, denn sobald die Sonne verschwindet, fallen die Temperaturen unter 15 Grad , der Wind kühlt zusätzlich. Das Finisher-Shirt wartet auf mich und alkoholfreies Bier. Partystimmung. Nach zwei Flaschen Bier bin ich bei Speck angekommen. In den Hotels hier oben gab es Duschmöglichkeiten,  dann noch ein Selfie vor der vier Meter hohen Schneewand und ich stelle mich in die Schlange für die Shuttlebusse. Die Kleinbusse fahren auf der anderen Seite des Stilfserjochs in die Umbrail-Passstraße zur Schweiz hinab. Dort wird in große Busse umgestiegen und nach weiteren 15 Minuten Fahrt bin ich  in Prad, wo wieder angenehme 28° sind.

Auf zur After-Run-Party samt Siegerehrung. Nach einer Portion Pasta und einem Döner schlafe ich fast am Tisch ein. Am Sonntag geht es nach dem Frühstück wieder nach Hause, ein leider viel zu kurzes Wochenende in Südtirol.

Fazit:

Dieser Bergmarathon ist wirklich einzigartig. Auf der Originalroute technisch nicht sehr schwer, bietet er auch Bergmarathon-Neulingen die Möglichkeit, sich an die Klasse mit 2.500 Höhenmetern heranzuwagen Das Zeitlimit ist ausreichend bemessen und ein Ziel auf 2.760 Höhenmetern zeigt vielen schon die Auswirkungen der dünnen Luft. 16 perfekt ausgestattete Verpflegungsstellen machen die Mitnahme von Eigenproviant überflüssig. Auf die Wetterlage sollte natürlich geachtet werden. Inklusive der Rückfahrt über die Schweiz eine wirklich runde Sache. Ob ich das ein zweites Mal brauche, weiß ich noch nicht.

Viele Grüße aus dem Süden der Republik, Thomas Werthmann